Tücher sind Gewebe, sind Zusammenfügungen. Das Wort textil kommt von lat. textus=Gewebe,
Geflecht, Verbindung, Zusammenhang. In ihrer Beschaffenheit haben Tuche Ähnlichkeit mit den Geweben, aus denen der
menschliche Körper besteht. Es gibt eine deutliche Affinität zur Körperoberfläche, der Haut.
Es geht mir um Beziehungen, vor allem um die Beziehung zwischen den Menschen und den lebensnotwendigen
Dingen von Menschenhand. Seit langem beschäftigen mich Tuche und Tücher. Sie sind
körpernahe Menschendinge. Die Menschen sind darauf angewiesen.Tuche sind mir Symbole ihrer Bedürftigkeit.
Entsprechend ihrer weichen Beschaffenheit verhalten sich die Tücher. In ihrer Weichheit und Anpassungsfähigkeit können
sie sich mit Körpern hautnah verbinden. Sie brauchen die Verbindung.
Sie schützen, hüllen ein und umgeben, aber sie sind selbst schutz- und umgebungslos. Sie sind immer Ober-Fläche
ohne eigene Körperlichkeit. Ihre plastische Energie ist gering. Ohne Körpergerüst und "Rückgrat" sind sie
zudem weich, schmiegsam, widerstandslos, unbegrenzt formbar, aber auch beliebig manipulierbar.
Durch die Versteinerung der Tücher geschieht eine spürbare, greifbare und augenfällige Veränderung, eine
Umkehrung der gewohnten Eigenschaften, eine Qualitätsveränderung. Die Bewegung der Tücher in der
Zeit wird angehalten.
Die Steintücher sind hart statt weich, fest statt modellierbar, rauh statt glatt, fassen sich kühl an
statt warm und sind "geräuschvoller" als die leisen Textilien, und in ihrer neuen Dinglichkeit widersetzen sie
sich. Einige Tücher richten sich auf, wählen zwischen Horizontale und Vertikale. Selbstständig geworden sind
sie jetzt eher Gegenüber als Umgebung - nicht mehr nutzbar, nicht mehr verbrauchbar, der Wegwerfgesellschaft
entronnen, der Vergänglichkeit entgegengestellt.
Silvia Breitwieser Marburg/L., 1976